Ein Festspiel

Vor knapp 400 Jahren schloss das bayrische Dorf mit dem Allmächtigen einen Deal, weil er die Bewohner von der Seuche erlöste. Jetzt spielen die Oberammergauer wieder groß auf – gegen Pest und Corona. Noch nie zuvor waren die Passionsspiele so modern und aktuell

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Es ist ein uralter Stoff, der Millionen von Menschen bewegt: Wenn in diesem Mai die Passionsspiele in Oberammergau beginnen, spielt ein ganzes Dorf verrückt. Die eine Hälfte, weil sie bei dem Theaterspektakel vor knapp 5000 Zuschauern mitspielt, die andere, weil sie an dem Touristenevent mitverdient. 

Mehr als eine halbe Million Menschen strömen jeweils in den schmucken Ort in Oberbayern, um sich das mehr als fünf Stunden dauernde Spiel anzusehen. Jeder zweite Bewohner steht auf der Bühne: Kinder, Väter, Großmütter, der Pfarrer, ein Esel, dazu Schafe, Ziegen, Pferde, Hühner, Tauben und sogar zwei Kamele. 2500 Mitwirkende hat das gigantische Theaterstück. Eine Riesenfreude herrscht im Ort, schon Jahre vor der Aufführung. 

Die Passionsspiele gehen auf ein Gelübde aus dem Jahr 1633 zurück. Damals gelobten die Oberammergauer, alle zehn Jahre das Leiden und Sterben Christi aufzuführen, insofern niemand mehr an der Pest sterben sollte. Das haben sie durchgehalten. Und aus dem biblischen Stoff mit musealem Charakter wurde ein weltbekanntes Bühnenspektakel, das viele begeisterte: von Simone de Beauvoir bis Adolf Hitler.

In diesem Jahr ist alles anders. Wegen Corona mussten die Dorfbewohner zwei Jahre länger warten, bis sie die letzten Tage im Leben Jesu wieder nachspielen dürfen, pompös und eindrücklich und unvergesslich. Ein Ort wie in Trance, von Frühjahr bis zum Herbst.

Oberammergau ist ein schönes malerisches Dorf am Rande der bayerischen Alpen. Es gibt im Zentrum viele alte Häuser im typischen alpenländischen Stil, der Blick dahinter fällt auf Berge. Wer hier aufwächst, kennt die berühmten Passionsspiele und will dort mitspielen – doch das kann dauern. Zwar wird jede Rolle doppelt besetzt, aber erwachsene Darsteller müssen seit mindestens 20 Jahren in Oberammergau leben. Und wer eine Rolle erhält, darf erstmal nicht zum Frisör. Um authentisch zu wirken, lassen sich alle Männer, außer die, die einen Römer spielen, ihre Haare und Bärte monatelang wachsen. 

Besonders macht die Passionsspiele aber vor allem ihr Spielleiter: Christian Stückl, 60, ist ein „Theatertier“, der in ganz Deutschland Bühnen mit seinen frechen Inszenierungen belebt. Seit 2002 leitet er zudem das Münchner Volkstheater. Hier wie dort bricht er gerne Tabus und holt junge Leute ins Theater. Der Sohn einer alteingesessenen Wirtsfamilie aus Oberammergau, groß und präsent, hat die angestaubten Passionsspiele in die Moderne geführt. Mit gerade mal 25 Jahren wurde er 1987 zum Spielleiter ernannt und setzte sich gegen den Widerstand des halben Dorfs und des Pfarrers durch.

Was lange als unmöglich galt, ist heute dank Stückl normal. Bis 1990 mussten alle Darsteller bei den Passionsspielen der Kirche angehören. Und verheiratete Frauen und Frauen über 35 durften gar nicht teilnehmen. In diesem Jahr spielen ganz selbstverständlich Protestanten, aus der Kirche Ausgetretene, ältere geschiedene Frauen, ein geflüchteter Junge aus Afghanistan und erstmals zwei Muslime mit. Stückl betonte früh: „Der Träger der Passionsspiele ist die politische Gemeinde, und die hat Religionsfreiheit zu gewähren.“ Die Rollen besetze er „nur nach Talent“.

Seinen neuen Judas entdeckte Stückl im Eiscafé Paradiso. Er saß hinter ihm und hörte nur die markante Stimme von Cengiz Görür. Der 26-Jährige wuchs in Oberammergau auf, seine türkischen Eltern führen am Ort ein Hotel. Als Kind stand er als Statist auf der Bühne der Passionsspiele, Stückl bat ihn zu einer Leseprobe ins Schauspielhaus. Inzwischen wurde Görür an der Otto-Falckenberg-Schule in München angenommen. Er will Schauspieler werden.

Auch Rochus Rückel, 25 und Student der Luft- und Raumfahrttechnik, war schon als Kinderdarsteller aktiv. Der junge Oberammergauer spielt den zweiten Jesus neben dem 41-jährigen Frederik Mayet, der die Rolle bereits 2010 meisterte und im Hauptberuf Pressesprecher des Münchner Volkstheaters sowie der Passionsspiele ist.

Schon zuvor hatte Stückl die Spiele von seinen antisemitischen Bezügen befreit. Er ließ Texte umschreiben, Musik neu komponieren und Kleider umschneidern. Das Gelb in Judasʹ Gewand, eine Farbe, mit der seit dem Mittelalter Juden stigmatisiert wurden, verbannte er aus der Kostümwerkstatt. Er lässt Jesus diesmal auch Sätze auf Hebräisch sprechen und energischer denn je auftreten – Jesus darf gegen den Krieg wettern und für die Schwachen lautstark aufschreien. Dabei geht es Stückl nicht konkret um den Krieg in der Ukraine oder die Corona-Krise. „Wir haben permanent Krieg“, sagt er und erwähnt Syrien.

Mit dem Theatermacher gibt sich der altbayerische Ort weltoffen: Das sieht man auch an einer Ausstellung im Museum Oberammergau. Draußen verhüllen alte Passionskostüme das Gebäude, drinnen sind die geschnitzten Krippenfiguren aus fünf Jahrhunderten in surreale Mumien verwandelt. Am Ende des Rundgangs erhält jeder Besucher ein Stück Stoff der alten Volksgewänder. Als Erinnerung an den biblischen Stoff der Passion.  

↘ Karten

gibt es unter Tel. 08822/ 835 93 30 oder online unter → passionsspiele-oberammergau.de

Text: Gabi Czöppan, Fotos: Birgit Gudjonsdottir, Oberammergau Museum

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